27.12.2010

Raphaël Rück – Tom Tykwer spricht über seinen neusten Film Drei. Der 45-jährige Regisseur bringt nach den zwei grossen Produktionen Das Parfüm und The International eine alltäglichere Geschichte auf die Leinwand, die den anderen jedoch in nichts nachsteht.

About DREI - Interview mit Tom Tykwer

Wieso der Titel: DREI?

Irgendwas daran ist interessant. Man liest die Zahl und dann sieht man drei Gesichter und denkt: „Oh kompliziert, aber irgendwie interessant“, und dann sieht man noch das irgendwie Humor im Spiel ist. Ich glaube, es gehen sofort Assoziationen los. Es ist ja kein Film über Dreiecksbeziehungen. Es ist ein Film über zwei, die einen dritten treffen. Insofern ist es auch kein Dreier. Es sind drei Zweier: Hanna mit Simon, Simon mit Adam, Adam mit Hanna.

Bei der Pressevisionierung war ich wohl der jüngste Zuschauer und mir ist aufgefallen, dass ich nicht zu den gleichen Stellen lachen musste wie die anderen. Glauben Sie, fehlt es älteren Generationen vielleicht an Selbstironie oder woran liegt das?

Ich finde den Film ausgesprochen komisch. Er schöpft ja seine Leichtigkeit aus seinem Ernst. Er versucht die komplizierten und die absurden Momente gleichwertig neben den alltäglichen zu behandeln. Dass das auf unterschiedliche Reaktionen trifft, hat nicht so sehr mit dem Alter zu tun, sondern nur damit in welcher Lage man gerade selber steckt. Er zeigt ja Leute in einer Transition, einer Phase in die man immer wieder gestürzt wird. Die Fragestellung: Sollen wir jetzt so weiterleben oder soll sich etwas ändern? ist ja nicht etwas, das besonders generationsspezifisch wäre. Die stellt sich beinahe jeder so alle fünf bis zehn Jahre im Leben. Ab dem Moment, wo man irgendwie als erwachsen tituliert wird – was ja leider viel zu früh passiert –ist man in diese Ecke gedrängt, sagen zu müssen wer man ist, was man will, was für Gelüste und Sehnsüchte man hat, auch was für etwas abwegigere Bedürfnisse. Das soll man alles wissen und meistens ist man sich über vieles gar nicht sicher oder es werden Bedürfnisse grösser über die Jahre, die man früher gar nicht so wichtig fand oder umgekehrt. All das verhandelt der Film auf eine Weise, die den, der gerade mitten in einem solchen Konflikt steckt, vielleicht mehr trifft, als jemand, der es gerade hinter sich hat und mit einer gewissen Entspanntheit darauf zurückblicken kann, sozusagen diese Krise überwunden hat. Den Eindruck habe ich, dass der Film für gewisse Leute extrem komisch ist und bei anderen auch eine Anspannung verursacht.

Herr Tykwer, glauben Sie, dass sich heutige Jugendliche von der Thematik angesprochen fühlen?

Ich weiss es nicht so genau. Junge Erwachsene wissen schon eine Menge von diesen Problemen. Viele haben sich einigermassen erfolgreich dagegen gewehrt, völlig abgelöst zu werden von ihren etwas spontaneren und noch nicht ganz so festgefahrenen Seiten. Das ist etwas, was auch unsere Generation prägt, dass wir versuchen uns nicht wie unsere Eltern- oder Grosselterngenerationen im frühen Alter schon ganz abzulösen von bestimmten Neugierden und einer etwas experimentelleren Lebenshaltung. Gleichzeitig sind wir gefordert uns festzulegen, weil wir zum Beispiel eine Berufsentscheidung treffen müssen, weil wir dann in dieser Berufsentscheidung alt werden sollen, ob es uns ein Leben lang interessiert oder nicht. Von diesen Widersprüchen handelt der Film. Insofern kann ich mir schon vorstellen, dass auch junge Leute Interesse dran haben.

Ihr Filmschaffen ist bedeutend und vielfältig. Zurückblickend, was entspricht Ihnen mehr: Ein Film wie Das Parfüm oder doch eher Drei?

Ich habe das Gefühl, dass die Filme irgendwie verwandt sind. Ich denke aber ehrlich gesagt nicht soviel darüber nach. Der Film den ich als jeweils nächstes mache, soll der Gruppe, mit der ich immer zusammenarbeite – was ein gewisser Freundeskreis ist – einen neuen Forschungsbereich bieten und uns auf eine bestimmte Weise herausfordern. Das ist die Basis für jedes Projekt. Wir nehmen uns auch immer mit in jedem Film, im Sinne unserer Haltung unsere Perspektiven, unseres Stils, unserer Vorstellung davon, wie das Kino sein soll. Wir können gar nicht anders, als diese Spur in jedem Projekt weiter zu verfolgen. Die Projekte haben in ihrer Chronologie alle eine aufeinanderfolgende Logik. Als wir DAS PARFÜM machten, hatte ich Sehnsucht nach einem ganz anderen Denkraum und einer ganz anderen ästhetischen Herausforderung und fand das war eine, die uns was ganz neues abverlangt hat. Solange ich mich in einem Film zuhause fühle, gibt es keine Präferenz. Ich muss die Figuren auch von innen begreifen können und das habe ich bei Grenouille nicht weniger tun können als bei Hanna, Simon oder Adam.

Sophie Rois war vor kurzem in einem Schweizer Film namens 180° zu sehen und stach schon in diesem stark heraus. Wie empfinden Sie sie als Schauspielerin? Wie war die Zusammenarbeit mit ihr?

Ich kenn sie schon ganz lange als Bühnenheldin in Berlin. Im deutschsprachigen Raum ist sie ja ein Theaterstar geworden im letzten Jahrzehnt. Ich habe mich immer danach gesehnt, dass sie mehr Protagonisten spielen kann im Kino und als ich dann endlich wieder einen Film hatte, wo das möglich war, wollte ich sie sofort haben. Sie hat natürlich, speziell was diesen Stoff betrifft, genau den richtigen Tonfall mitgeprägt. Auch durch die Mischung von Witz, Klugheit, einer bestimmten Art von Schroffheit und gleichzeitig einer ganz hohen Genauigkeit im Umgang mit Texten hat sie den Film stark geprägt. Der Spass, den man hat beim Zuschauen von Sophie Rois, ist ungewöhnlich, weil sie keine einfach zu kategorisierende Figur spielt und auch nicht ist (er lacht). Sie ist ein vielschichtiges Wesen und ich glaube das liebt man an ihr, dass sie das auch nicht versteckt, sondern dass sie das quasi betont.

In einem früheren Interview sagten Sie, dass die Geschichte nicht direkt autobiographisch sei. Sebastian Schipper und David Striesow sind anscheinend beide klar heterosexuell und Sophie Rois glaubt, dass das archaische Familienmodell mehr der Wirklichkeit entspricht. Ist denn nun der ganze Film bloss ein theoretisches Experiment?

Es geht viel grundsätzlicher um die Tatsache, dass wir, glaube ich, alle ein deutlich entspannteres bzw. kritisches Verhältnis zu diesen normierten Beziehungsmustern haben, aber dass wir dann in der Praxis ein bisschen hinterherhinken und dass das sicherlich mit unseren Prägungen und auch einfach mit praktischen Möglichkeiten zu tun hat. Unsere über das Verbindlichkeitsmuster hinausgehenden Triebe und Neugierden umzusetzen ist deutlich aufwändiger und komplizierter in der Gegenwart, als dass es uns recht ist. Ich glaube, dass viele darunter leiden, dass sie sich dann trotzdem in diesen Verpflichtungen einrichten. Der Film spielt auch nur damit, dass es eben unterschiedliche Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Er hat aber keine Botschaft, kein Sendungsbewusstsein. Abgesehen davon ist es wirklich kein Film der intakte Zweierbeziehungen ernsthaft infrage stellt, sondern er zeigt aus meiner Sicht sogar eine, die verdammt gut funktioniert. Dass selbst die nicht gefeit ist vor natürlichen Verführungen, vor Lockungen, ist ja nun das selbstverständlichste und das normalste der Welt. Das weiss jeder.

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25.04.2012

Ursula Meier zu ihrem neuen Film Sister

Raphaël Rück – Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier (Home) rückt mit ihrem zweiten Werk Sister erneut ins Rampenlicht. Für ihren Film erhielt sie an der diesjährigen Berlinale einen Silbernen Bären, den Sonderpreis der internationalen Jury unter dem Vorsitz von Mike Leigh. Sie erzählt uns von ihrem Film, ihrer Arbeit und der Filmausbildung in der Schweiz.

Ursula Meier zu ihrem neuen Film "Sister"

Wieso hast du zwei verschiedene Titel gewählt: Den französischen “L’enfant d’en haut” und den deutschen bzw. internationalen “Sister”?

Ursula Meier: Wir haben keinen entsprechenden Titel auf Englisch gefunden: “The Child from Above” klingt nicht gleich poetisch und doppeldeutig wie auf Französisch. Ich habe es vorgezogen, einen völlig anderen Titel zu wählen. Zuerst habe ich gezögert den Film auch für den französischsprachigen Release “Sister” zu nennen, aber ich wollte nicht, dass man meint, ich hätte ein Problem mit meiner Muttersprache [lacht]. Zudem finde ich die zwei Titel passend zur Schizophrenie der Figuren.

Besinnt man sich zurück an Home, deinem ersten abendfüllenden Film, fällt auf, dass du das Setting in “Sister” realistischer gestaltest.

Es war bei “Home” tatsächlich schwieriger, die von mir imaginierte Welt in der Realität umzusetzen. Es dauerte auch ein Jahr bis wir den Drehort in Bulgarien fanden. Alles vom Haus bis zur Autobahn musste gebaut werden. Deshalb dachte ich mir: Für meinen nächsten Film gehe ich von existierenden Landschaften aus und passe sie meinen Vorstellungen an.

Das realistisch wirkende Skigebiet steht auch im Kontrast zur stärker “konstruierten” Ebene.

Da der Zuschauer die Perspektive des Kleinen einnimmt, wollten wir die Berge möglichst ohne Pomp filmen. Man tritt eigentlich hinter die Kulissen, dringt in das “bas du haut” sozusagen. Man entdeckt eine Welt, die vielen unbekannt ist: Die Welt der Minenarbeiter, die für die Industrie des Wintertourismus arbeiten. Nur am Schluss wird die Schönheit der Alpen enthüllt. Leider ist es zu spät, der Schnee ist geschmolzen und Simon zu klein für diese Welt.

Das Rhonetal ist ein wenig trübselig im Film…

Ja, aber ich wollte es nicht unheimlich erscheinen lassen. Die Art, wie das Tal gefilmt ist, verleiht ihm was Graphisches. Der Turm kommt mir fast elegant vor. In der Bearbeitung der Farben sind zum Beispiel drei Phasen auszumachen: Weihnachten, Februar und Ostern. An Weihnachten ist alles in ein blaues Licht getaucht, was an nordische Märchen von Andersen erinnert. Man hebt wirklich von der Wirklichkeit ab.

Es ist mir aufgefallen, dass Léa Seydoux keinen westschweizer Akzent annimmt. Wieso?

Ich hatte mir vorgestellt, dass sie auch aus dem benachbarten Frankreich stammen könnte. Es gibt bekanntlich zahlreiche Franzosen in der Gegend. Ich selbst bin an einer Grenze aufgewachsen, in der Nähe von Besançon um genau zu sein und deshalb zeige ich gerne französische Grenzgänger – wie ihren Freund mit der französischen Kennleihzahl. Die Sprache des Kleinen ist stärker regional gefärbt. Er sagt beispielsweise “septante” oder “nonante”.

Wird dein Film auch in anderen Festivals als der Berlinale zu sehen sein?

Er wird in enorm vielen Festivals gezeigt werden. Zurzeit ist er in Hong Kong und am internationalen Frauenfilmfestival von Créteil zu sehen. Er ist Abschlussfilm in Buenos Aires und eröffnet ein koreanisches Festival, bei welchem ich anwesend sein werde.

Wolltest du mit diesem Film eine Diskussion über soziale Misere in Industrienationen wie der Schweiz stimulieren?

Schön, wenn es welche auslöst, doch im Grunde genommen mache ich keine Filme, damit sie Debatten auslösen. Ich glaube nicht, dass Kino dafür da ist, Botschaften zu vermitteln oder unmittelbar Personen, Tatbestände anzuprangern. Es ist vor allen Dingen eine Geschichte, die sich zwischen zwei Individuen abspielt, die sich so gut wie möglich über Wasser halten, die ein wenig verloren sind. Als die Masken fallen, wird klar, dass die Situation extrem schwierig für dieses Mädchen war, dass sie sich abgesondert haben und dass sie eine zornige Figur ist, die wahrscheinlich keine Sozialhilfe beantragen würde. Der Film bezeugt die Existenz prekärer Verhältnisse in der Schweiz – denn die gibt es! – aber hier hat man es aufgrund der Vorgeschichte mit einem besonderen Fall zu tun.

Würde unser Sozialsystem einen Fall wie diesen nicht aufdecken?

Nicht unbedingt, es gibt viele Leute, die sich nicht freiwillig melden und die ungern “betteln”, weil es sehr erniedrigend ist. Natürlich ist der Film auch ein Märchen.

Hat dieses Märchenhafte etwas mit der völligen Abwesenheit von Polizei und staatlicher Autorität im Film zu tun?

Absolut, ich wollte auf keinen Fall diesen Aspekt reinbringen. Die Figuren bilden ihre eigenen Gesetze. Sie erfinden ihre Welt, ihre Utopie. Es herrscht keine Hierarchie, obwohl er zwölfjährig und sie siebenundzwanzigjährig ist. Es ist eine alternative Lebensart. Natürlich werden sie von der Realität wieder eingeholt, wie in “Home” übrigens, aber sie bleiben eben marginale, stolze Figuren.

Wie du sagst filmst du das “bas du haut”, die Kehrseite der Medaille sozusagen. Etwas, das in Schweizer Filmen oft untergeht, nicht?

Ja, ich kann mich an keinen Film erinnern, in welchem eine soziale Realität nicht ohne eine gewisse Herablassung und auf so unerwartete Weise gezeigt wird. Es war auch der Wunsch, die Schweiz anders zu zeigen, auch wenn der Film metaphorischer ist als das. Als ich in Berlin war, sagte man mir, dass der Film nicht unbedingt in den Bergen, also in der Vertikalen spielen müsste, sondern auch in anderen horizontalen touristischen Regionen machbar gewesen wäre.

Was deine Einflüsse angeht: Was sollte man gesehen haben, um Ursula Meier zu “verstehen”?

Oh, gar nichts! Ich hoffe, dass der Film nichts ähnelt. Bei “Home” hat es mich gefreut, als man sagte, der Film sei ein UFO. Ich habe Mühe mit Kategorisierungen. Ich mag Themen, die borderline sind, denen kein Etikett aufgesetzt werden kann. Gerne entziehe ich mich der Norm. In Berlin verglich man mich mit den Brüder Dardenne, aber sie waren keine Inspirationsquelle für mich. Vielleicht ist uns gemeinsam, dass wir von einem spezifischen Ort ausgehen. Sie filmen bekanntlich immer die Banlieue von Lüttich und das erlaubt es ihnen, universell zu bleiben.

Zurück zu deiner Arbeit, dein Lebenszentrum ist in Brüssel, nicht wahr?

Ja, also ich stehe oft “zwischen” Orten, das heisst zwischen Brüssel, Paris und Lausanne, wo ich mit meinen Freunden und Kollegen Jean-Stéphane Bron, Lionel Baier und Frédéric Mermoud eine Produktionsfirma gegründet habe. Sie heisst “Bande à Part Films”. Zusätzlich unterrichte ich auch an der ECAL (Ecole cantonale d’art Lausanne) und bin deshalb oft in der Schweiz. Wahrscheinlich hätte ich “Sister” nie gedreht, wenn ich ganzjährig hier leben würde. Wenn man drinnen steckt, ist die Umwelt weniger gut lesbar.

Du hast eine Ausbildung zur Regisseurin in Belgien absolviert. Was hältst du von den schweizerischen Ausbildungsmöglichkeiten?

Ich denke, dass sie sehr gut sind, jedenfalls was die ECAL betrifft, denn ich war noch nie an der ZHDK (Zürcher Hochschule der Künste). Die Dozenten sind wirklich ausgezeichnet und die Studenten dürfen sich glücklich schätzen. Ich hätte gerne ein derartiges Unterrichtsniveau genossen. Bei uns war es fast umgekehrt. Man musste sich die Informationen selber beschaffen.
Natürlich kann die Schweiz weniger Schulen subventionieren, die Techniker ausbilden, wie in Frankreich oder Belgien – denn entgegen landläufiger Meinung werden in Belgien sehr viele TV-Filme gedreht. Die ECAL bietet eine globalere Ausbildung an. Während ich lediglich in Regie unterrichtet wurde.

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23.03.2011

Stéphanie Chuat und Véronique Reymond im Interview

Raphaël Rück – Die zwei Gewinnerinnen des Schweizer Filmpreises 2o13 waren anlässlich der Premiere ihres Debütfilms La petite chambre in Zürich und erzählen von ihrer langjährigen Zusammenarbeit.

Interview Stéphanie Chuat und Véronique Reymond

Ihr habt letzten Samstag den Quartz für den besten Spielfilm erhalten. Wie habt ihr diese Zeremonie erlebt?
Véronique Reymond: Wir waren sehr gerührt. Für uns, die vom Theater kommen, ist das ein Geschenk, das uns sehr ehrt, denn es gibt uns eine Legitimation in der Welt des Kinos. Es ist eine grosse Ehre, in die Kreise des Schweizerischen Filmschaffens aufgenommen zu werden.
Stéphanie Chuat: Ich war auch sehr gerührt. Da die Zeremonie ziemlich lange dauert, geht einem vieles durch den Kopf. Je mehr Zeit verstrich, umso mehr war ich überzeugt, dass der Film keinen Preis erhalten würde. Die Überraschung war umso grösser als wir zwei Preise bekamen. Zudem hatten wir nicht wirklich eine Rede vorbereitet, also mussten wir uns schnell wieder einfangen.

Ihr habt zusätzlich den Preis für das beste Drehbuch erhalten. Wie habt ihr die Geschichte erfunden? Basiert sie auf einer persönlichen Erfahrung?

VR: Sie stammt ausschliesslich aus unseren beiden Vorstellungswelten. Wir haben keine der zwei Erfahrungen erlebt. Wir sind zu jung, um Edmonds Erfahrungen gemacht zu haben, sogar unsere Eltern sind noch nicht soweit. Wir kennen das nur von unseren Grosseltern. Roses Geschichte ist auch nicht autobiographisch, aber wir haben gründliche Recherchen zum Thema betrieben.“La Petite Chambre“ verbindet zwei Themen. Das Altwerden, weil es ein aktuelles Problem in der Schweiz darstellt: Wohin mit unseren Alten? Was passiert, wenn man nicht mehr selbstständig leben kann? Das Thema der Trauer um eine Fehlgeburt ist später dazu gekommen. Um beide Figuren in eine Beziehung zu setzen, mussten beide eine Schwäche haben. Deshalb haben wir der Figur der Rose eine Zerbrechlichkeit gegeben, die mit dem Verlust ihres Babys nach 8-monatiger Schwangerschaft und der damit verbundenen Trauer zusammenhängt.
SC: Da es sich um dramatische Themen handelt, haben wir intensiv am Drehbuch gearbeitet. Damit die Geschichte lebendig blieb, haben wir auch humorvolle Szenen eingebaut. Es ist wirklich ein Drama, aber wie Michel Bouquet sagte: “La petite chambre, ist ein Drama, das dem Leben gleichen kann mit seinen Kontrasten zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit.”

Der gewählte Titel – La Petite Chambre – bezieht sich auf einen der zwei Plots: Den der Fehlgeburt. Wieso habt ihr euch für diesen Titel entschieden?

VR: “Das kleine Zimmer” ist ein Kinderzimmer in Roses Wohnung, das ihr Leiden symbolisiert. Rose ist wie „eingefroren“, weil es für sie zu schwierig ist, ihrer Trauer zu begegnen. Das kleine Zimmer ist wie ein Mausoleum, in welches der alte Mann neues Leben bringen wird. Er ist ein Mann am Ende seines Lebens, der eine junge Frau ins Leben zurück führt.

Ihr kommt beide vom Theater. Hat die Auseinandersetzung mit dem Medium Film auch eure Arbeitsmethode mit den Schauspielern beeinflusst?

VR: Die Tatsache, dass wir selber Schauspielerinnen sind war für sie sehr nützlich. Sie fühlten sich verstanden, weil wir wissen was es heisst, vor einer Kamera zu stehen. Wir kennen den Stress der Dreharbeiten und die extreme Konzentration, die das Spielen vor einem Team von 30 bis 40 Personen erfordert. Deshalb galt unsere Aufmerksamkeit ganz besonders dem Spiel.

Der Film wurde von der angesehenen Produzentin Ruth Waldburger produziert. Wie lief die Zusammenarbeit mit Zürich?

Am Anfang kamen wir mit unserer Geschichte. Ruth wollte eigentlich keine Erstlinge mehr machen, aber unser Skript hat sie berührt. Sie sagte zu uns: “Lasst mich überlegen!” und es war wunderbar, dass sie akzeptierte, mit uns in diesen ganzen Prozess einzusteigen. Unter anderem, weil wir Leute brauchten, die als Garant einstehen konnten. Ruth war für uns ein wertvoller Start. Unser zweiter Glücksfall war Michel Bouquet, den wir mit unserem Drehbuch überzeugen konnten, vor allem da er seit 2005 in keinem Film mehr zu sehen war.

“La Petite Chambre” spielt in Lausanne, aber die Schauspieler sind mehrheitlich aus anderen frankophonen Ländern und haben keine Waadtländer Akzente. War das ein kommerzieller oder eher ein künstlerischer Entscheid?

VR: Das ist eine sehr interessante Frage, weil sie sich bei vielen Schweizer Filmen stellt. Wie die meisten Westschweizer Filme waren wir gezwungen, den Film in Koproduktion zu finanzieren. In unserem Fall war dies Luxemburg. Die Luxemburger haben sehr spezielle Akzente, die belgische und deutsche Färbungen haben. Wir haben unseren “accent vaudois”, die Genfer haben ihren “accent genevois” und die Franzosen ihre “accents français”. Manchmal entsteht dadurch in Filmen eine höchst bizarre Mischung aus Akzenten. Wir mussten uns entscheiden. Da wir Michel Bouquet in der Hauptrolle hatten, haben wir seinen französischen Akzent als Referenz genommen. Wir haben insbesondere auf den Akzent seines Sohnes Wert gelegt. Beide mussten zusammen passen. Wir konnten keinen luxemburgischen Schauspieler mit deutschem Akzent nehmen, der Michel Bouquets Sohn spielen würde. Als wir Joël Delsaut trafen, der Belgier ist und dessen Stimme sehr nah an Michel Bouquets kommt, dachten wir: Das ist er! Die Leute werden an dieses Vater-Sohn Duo glauben können.
SC: Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Geschichte nicht typisch Schweizerisch ist, sie könnte sich irgendwo abspielen. Wenn wir einen Waadtländer Film gemacht hätten, hätten wir Schauspieler mit einem lokalen Akzent gesucht, damit der geografische Kontext glaubhaft wirkt.

Euer Film endet in den Alpen. Viele Schweizer Regisseure und Regisseurinnen entscheiden sich für die Bergkulisse. Was hat euch zu dieser Wahl bewogen?

SC: Es hängt mit der Geschichte, die wir geschrieben haben, zusammen. Wären wir in Belgien, würde der Film vielleicht an der Küste der Nordsee enden. Doch wir sind in der Schweiz und überall wo man hinsieht, sind Berge. Sie sind völlig in unseren Alltag integriert.
VR: Natürlich sagt man oft: “Ach, wieso muss man in Schweizer Filmen immer Berge sehen?!?”. Man kann in der Tat einen Film in Genf drehen, völlig urban, aber in unserem Film hat die Figur Edmond einen persönlichen Bezug zu den Bergen.

Der Film hat in der Romandie viel Erfolg gehabt. Meint ihr, dass er in der Deutschschweiz ähnlich gut ankommen wird?

VR: Wir wünschen es uns sehr, ja. Leider ist Michel Bouquet in der Deutschschweiz nicht sehr bekannt. In Frankreich, Belgien und in der Romandie gilt er als ganz grosser Schauspieler und wird sehr respektiert. Alle reden vom “monstre sacré”. In nicht-frankophonen Ländern und Regionen, in denen der Film gezeigt wurde, sagen die Zuschauer: “Ach der spielt ja gut! [sie lacht] Wer ist dieser Schauspieler, der so gut spielt?” Daher setzen wir mehr auf die zwei Quartz, die der Film gewonnen hat. Wir hoffen, dass diese Auszeichnungen in der Deutschschweiz ihre Wirkung haben.

Wie sieht es international aus?

SC: Der Film ist momentan in Frankreich zu sehen. Er wird auch in Deutschland, vielleicht in Belgien und natürlich in Luxemburg gezeigt werden.

Dürft ihr schon verraten, welche eure nächsten Projekte sein werden?

SC: Das Westschweizer Fernsehen, TSR, hat einen Wettbewerb für eine TV-Serie lanciert, die wir gerade entwickeln. Wir wissen nicht, ob unser Projekt ausgewählt wird, aber wir setzen alles daran, unsere Figuren während den 13 mal 26 Minuten lebendig werden zu lassen.Zudem schreiben wir an einem zweiten Spielfilm und diesen Herbst steigen wir wieder auf die Bühne im Théâtre de Vidy in Lausanne mit dem Stück “Lignes de faille” von Nancy Houstan, das Véronique fürs Theater adaptiert hat.

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4.04.2011

François Ozon im Interview zu seinem Film Potiche

Woher kam Ihnen die Lust, diese Geschichte verfilmen zu wollen?

 

Als ich dieses Stück entdeckt habe, dachte ich, dass dies eine unglaubliche Rolle für eine Schauspielerin darstellte und dass daraus ein ziemlich lustiger Film entstehen konnte. Gleichzeitig habe ich lange gebraucht, um dieses Theaterstück fürs Kino zu adaptieren. Ich hatte das Gefühl, dass es sehr altmodisch sei. Aber während der französischen Präsidentschaftswahlen, als Ségolène Royale Nicolas Sarkozy gegenüberstand, gab es ihr gegenüber viele frauenfeindliche, chauvinistische Bemerkungen und ich fragte mich, ob sich die Mentalitäten wirklich geändert hatten. Frauen an der Macht, schienen Männer immer noch zu ärgern. Deshalb habe ich das Stück ein zweites Mal gelesen und daran zu arbeiten begonnen.

Was ist in Ihren Augen die Aktualität von POTICHE?

Ich glaube, dass sich für die Frauen vieles zum Positiven verändert hat. Wenn man 30 / 40 Jahre zurückblickt wird klar, dass sich die Stellung der Frau erheblich verbessert hat. Und doch gibt es immer noch keine perfekte Gleichstellung: Für dieselbe Arbeit werden Frauen nicht gleich entlohnt. Es gibt noch viele Ungleichheiten und viele Kämpfe zu führen. Natürlich ist es ein Film über Frauen und Männer, aber es könnte auch rein zwischen Männer spielen, denn es geht um menschliche Beziehungen, zwischen Eltern und Kinder zum Beispiel. Der Film will aber keine Botschaft vermitteln. Es bleibt eine Komödie mit gewissen Themen, aber ich wollte die Geschichte möglichst unbeschwert erzählen.

Sie haben den Film unter anderem auch für Catherine Deneuve gemacht. Wie ist die Arbeit mit ihr verlaufen?

Wir hatten bereits in “8 femmes” zusammengearbeitet und das war nicht sehr befriedigend, denn sie war nur eine von acht. Wir hatten keine privilegierte Beziehung, weil ich alle Schauspielerinnen demokratisch und neutral behandeln wollte. Darum konnte ich nicht mehr Energie in die Beziehung zu Catherine reinstecken. In diesem Film spielt sie wirklich die Hauptrolle und als ich sie traf und fragte, ob sie meine “Potiche” sein wollte, hat sie sofort zugestimmt.

Die Geschichte spielt in den 70er-Jahren. Woher stammt Ihr Interesse für diese Zeitspanne?

Es ist die Zeit meiner Kindheit. Im Jahre 1977 war ich 9-jährig und ich habe noch viele Erinnerungen an diese paar Jahre. Wenn man an seine Kindheit zurückdenkt, ist natürlich alles wunderbar. Ich kann mich gar nicht an den politischen Background erinnern oder daran, dass es auch eine Krisenzeit war. Ich kann mich bloss an die fröhliche Seite erinnern: Die Frisuren, die Kleider und die Musik; was man dann auch im Film sieht.

Wurde der Film vom Publikum wie erwartet rezipiert?

Meine Erwartungen wurden sogar übertroffen. In Frankreich war der Film sehr erfolgreich und lockte mehr als 2’300’000 Zuschauer in die Säle. Ich war auch froh zu sehen, dass ältere Schauspieler – die Hauptrollen sind alle über 60 – ihren Reiz nicht verloren haben. Der Film gefiel vielen Frauen gut. Viele bedankten sich bei mir, weil es die Geschichte einer Emanzipation ist, einer Frau, die zuletzt doch ihren Platz findet.Zudem erfreute mich die Tatsache, dass der Film trotz einer sehr französischen Verankerung bei vielen Leuten gut ankam. Weil er sehr französisch ist, die Geschichte aber gleichzeitig sehr universell bleibt, verkauft er sich auch im Ausland so gut.

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